Privatheit in der Liebe und die Folgen
Die eigene Bedürftigkeit verstehen und heilen
von Michael Hartenfels
Die Welt ist nicht privat. In meinen Selbsterfahrungsgruppen erlebe ich regelmäßig den Unterschied zwischen dem privaten Blick und der Anteilnahme am großen Ganzen. Beides scheint sich zu widersprechen. Es gibt Teilnehmer, die privat anwesend sind und vor allem ein einziges Interesse verfolgen: ihr Eigenes! Wie bekomme ich das, was ich glaube, ich will? Ihre Absicht ist deutlich spürbar und es sind oft bedürftige Menschen. Nichts kann sie wirklich befriedigen. Bei allem Recht auf ein persönliches Interesse und der Notwenigkeit, manches privat zu schützen, sind diese Menschen meist anstrengende und lästige Zeitgenossen. Ihr Wille blendet alles aus und verhindert das Potential der Welt, die sie umgibt.
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Im Privaten findet die Realität mit ihre unglaublichen Möglichkeiten kaum noch statt. Ich nenne diesen Zusammenhang auch den Unterschied zwischen dem „kleinen“ und dem „großen“ Energiekreislauf; der kleine Energiekreislauf ist meine private Suche, der große Energiekreislauf ist mein Wirken und meine Anteilnahme an die Welt. Es geht schlicht um den Weg von dem, was ich glaube zu brauchen, zu dem, was die Welt benötigt. Damit verbunden ist die Entdeckung, wie sehr ich mir selbst im Weg stehen kann. Der bedürftige Mensch verbleibt in der eigenen kleinen Welt, er hegt und pflegt sie. Seine Antriebskraft ist fast ausschließlich der persönliche Wille. Ein Großteil der Lösung liegt im Verlassen dieser Strategie. Statt zu fragen, was ich brauche oder bekomme, achte ich auf die Dinge, die ich geben könnte. Was benötigt dieser Raum, diese Situation oder diese Gruppe? Durch den Wechsel in meiner Aufmerksamkeit verlasse ich die eigene Bedürftigkeit, bin plötzlich versorgt und vor allem frei. Statt der vermeidlichen Suche nach dem, was ich glaube für mein Glück zu brauchen, führt mich diese veränderte Haltung zu meinen Gaben und wirklichen Wünschen. Persönliches Glück wie auch die Entwicklung von Kultur hat viel mit dem Verlassen der eigenen privaten Welt zu tun.
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Verhaftet im Privaten neigt der Mensch dazu, den umgebenden Raum einfach nur „abzugrasen“, zu bewertet oder im wahrsten Sinne des Wortes auszusaugen. Viele meiner Mitmenschen sind vor diesem Hintergrund einfach nur „Plünderer“; sie selbst bleiben dabei ausgezehrt und frustriert zurück. Entsprechend verwahrlost die unmittelbare Umgebung dieser Menschen. Die Sinnlosigkeit und auch Hässlichkeit menschlicher Zusammenkünfte hat viel mit der endlosen privaten Suche unserer Zeit zu tun. Es gilt ehrlich zu werden und diese seelenlose Leere wahrzunehmen.
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Kultur beginnt dort, wo ich mehr tue, als ich müsste. Asozial wird ein Mensch, wenn ihn die Umwelt über die eigene Person hinaus nicht wirklich interessiert. Oder genauer: dort, wo er nur auf seinen vermeintlichen Vorteil oder auf die Erfüllung seiner Konditionierung schaut. Das kulturelle Engagement einer Person geschieht ohne etwas zu erwarten, weil der Ausgleich und die Belohnung in sich selbst liegen. Was kann ich dem Raum geben, damit er besser, interessanter, schöner wird und sich in sein Potential entwickelt? Wenn ich meinen Anteil gebe, bin ich befriedigt und werde versorgt. Ein direkter Ausgleich, wie in der Konsumwelt durch Bezahlung, funktioniert hier nicht – meinen Lohn bekomme ich nicht unmittelbar von einem Konsumenten oder Arbeitgeber, sondern zu einem anderen Zeitpunkt und an einem anderen Ort der Welt.
Die Blüten eines Baumes verschenken sich im Frühling tausendfach. Hier ist ein Naturgesetz am Werk, das wiederkehrende Fülle und Überfluss verkörpert und ermöglicht. Würde der Baum „privat“ nach dem Sinn fragen, ob er etwas dafür bekommt, ob er es wirklich will oder ob es ihm angemessen erscheint – er würde wahrscheinlich nicht eine einzige Blüte ausbilden! Übertragen auf den Menschen wäre die Frage: welche „Blüten“ habe ich in grenzenloser Fülle zu verschenken? Was sind meine Gaben? Was fällt mir leicht und ist mein selbstverständlicher Anteil am großen Ganzen? Es ist die Frage nach den Talenten einer Menschen. Dabei entsteht fast im nebenbei Beruf, Gemeinschaft und Lebenssinn. Diese Talente sind meist offenkundig und werden durch den privaten Blick kontinuierlich blockiert. Je privater ich denke und handele, um so bedürftiger werde ich! Ich werde zum leicht manipulierbaren Konsumenten oder Wähler. Private Menschen sind bedürftige Menschen. Umgekehrt: Verlasse deine Privatheit und du BIST versorgt!
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Die Reise geht von dem, was ich bekomme zu dem, was ich „Passendes“ geben kann. Von dem durch mein Handeln entstehenden größeren Ganzen wird dann jeder der Gemeinschaft inklusive meiner eigenen Person verschwenderisch genährt. Vor dem Entstehen der degenerierten monotheistischen Religionen entwickelten sich matriachale Kulturen auf dieser Grundlage zu hoch entwickelten Kulturen. Der Kapitalismus ist ein lebensfeindliches System und nährt sich aus dem Gegenteil. Der Kapitalist will haben, statt zu geben. Oder er will nur geben, wenn er etwas dafür bekommt.
In unseren Gruppen entsteht aufgrund dieser inneren Zusammenhänge unabhängig von der eigenen „privater“ Leistung ein gemeinschaftlicher Raum, in dem die Menschen tanken, sich genährt fühlen und Intimität erfahren. Das entstehende „Glück“ innerhalb weniger Stunden an einem Seminarwochenende wäre privat für eine einzelne Person selbst mit viel Anstrengung so nicht zu erzeugen. Manche glauben, das Gemeinschaft an sich schon Glück bedeutet. Auch eine Gemeinschaft kann ebenso an der Privatheit leiden wie jeder Einzelne. Es ist in Wirklichkeit dieser Hintergrund, der Gruppen nährt und aufblühen lässt, egal ob im beruflichen oder privaten Kontext.
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Die Übersetzung des Wortes Privat bedeutet „berauben“. Wenn Menschen ihre meiste Zeit privat unterwegs sind, verlieren sie die Fähigkeit zu Empathie, Anteilnahme und sozialem Verhalten. Dies führt über Jahre zu Verrohung und Vereinzelung. Unsere Kultur unterstützt diese Vereinzelung, weil sie den Konsum vergrößern will. Je privater und unglücklicher ich bin, um so mehr brauche und konsumiere ich in der Außenwelt. Im Detail bedeutet dies: es ist „mein“ Beruf, „meine“ Freundin und es sind „meine“ Kinder. Teil des Problems ist es auch, im Gefühlsbereich von „meiner“ Eifersucht oder „meiner“ Liebessehnsucht zu sprechen. Wie wäre die Wandlung hin zu: dies ist meine aktuelle Beschäftigung, dies ist die Frau, mit der ich gerade viel zu tun habe und jene Kinder wurden mir anvertraut. Die Anhaftung wäre schwächer und Liebeskräfte könnten leichter fließen. Die verschiedenen Elemente meines Lebens wären nicht mehr als Sklaven gezwungen, sich auf mein privates „Ich“ auszurichten. Sie würden sich frei von mir entwickeln und mir mit ihrem vielschichtigen Möglichkeiten dienen. Aus meinem einfältigen Leben würde ein vielfältiges Potential.
Der Weg führt auch von dem Wunsch nach einer privater Liebe mit einem speziellen Menschen zu der Frage: Wie komme ich in einen liebenden Zustand? Wie müsste ich leben und wie sähe ein entsprechender Alltag aus, um wieder lieben zu können? Welche zu mir passenden Menschen in ihrem Wesen und in ihrer Fülle würde ich durch diese Veränderung anziehen? Stattdessen versuchen viele ihre Liebesfähigkeit an einer geeigneten Person im Außen festzumachen und diese dann als Partner lebenslang zu besetzt. Die Ausrichtung auf das Private führt zu einer grundsätzlichen und dauerhaften Lieblosigkeit, an der dann viele leiden. Entdecke deine Liebesfähigkeit, indem du aufhörst, privat auf die Dinge, Menschen und dich selbst zu schauen und werde glücklich. Diese Änderung der Haltung ist für den Einzelnen oft eine persönliche und biographische Revolution. Unmittelbar findet eine Versorgung und Verankerung in der Welt statt. Es ist ein religiöser, weil ein mit der Schöpfung rückbindender Vorgang; das eigene Leben bekommt Tiefe und Verfeinerung. Ich bin nicht abhängig von mir selbst und meinen Launen. Mit meiner Verbindlichkeit erwacht auch meine Verbundenheit mit allem. Es ist ja so anstrengend, jeden Tag privat mit sich selbst zu sein und seine endlos gleichen Gedanken über die eigene Person und meine Welt kreiseln zu lassen. Hier liegt oft der wirkliche Grund für Unzufriedenheit, Rückzug und Depression.
Es gibt viele Frauen, die meine Gruppen in erster Linie besuchen, weil sie einen geeigneten Mann für eine potentielle Partnerschaft oder einem Vater für ihre potentiellen Kinder suchen. Es ist etwas Liebloses und Verhängnisvolles an dieser tief verankerten aber unbewussten Haltung. Wenn diese Frauen meinen, einen solchen Mann gefunden zu haben, läuft das Programm vorhersehbar nur in die eine Richtung: die Gruppe, bestehende Freundschaften, der Rest der Menschen oder irgendeine Anteilnahme an der Welt verschwinden. Oft folgt der Rückzug in eine jahrelange Zweisamkeit und es beginnt die Inszenierung des vermeintlich eigenen Glücks. Einen wirklich passenden Partner oder Vater für ihre Kinder findet eine Frau jedoch nicht durch diese private Suche.
Das Männliche ist eher auf den Eros ausgerichtet. Männern tendieren in den Gruppen zu der Suche nach einer potentiellen Geliebten und motiviert von dem Wunsch nach Sexualität. Ihre Frage lautet: Gibt es eine Frau in der Gruppe, die mir attraktiv genug erscheint, meinen Vorstellungen und Schönheitsidealen entspricht? Habe ich Chancen, mit ihr in Kontakt zu kommen? Bei den Spielen und während der Pausen wird eifrig dieses privaten Ziel verfolgt. Die entsprechende erotische Suche an sich ist genauso wenig falsch wie der Partner- oder Kinderwunsch. Verhängnisvoll ist jedoch die private Strategie, die nur noch ein Rinnsal an Möglichkeiten zulässt.
Die Programme der Einzelnen werden an dieser Stelle so vorhersehbar wie langweilig. Das Ergebnis ist ein Verlorengehen an dem, was in Wirklichkeit als Fülle vorhanden ist. Beide Geschlechter kommen über ihre Muster zu dem gleichen fatalen Resultat: ein bestimmter Mensch taucht auf und alle anderen sind nichts mehr wert! Zugleich entziehe ich einen Menschen allen anderen. Es folgt ein Mechanismus der Erhöhung („ich liebe ihn/sie – ich kann nicht ohne ihn/sie“) und spätere Entwertung dieses einen Auserwählten („ich hasse ihn/sie – ich will ihn/sie nie mehr sehen“). Diese Suche findet ständig statt, ist durch die Gesellschaft konditioniert und hat nur indirekt mit den wirklichen, individuellen Lebensfragen zu tun.
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Echte Lebenspartner oder wirkliche Freunde tauchen dann auf, wenn ich meinem Interesse und damit meiner Aufgabe folge. Partnerschaft benötigt für ihre Dauer einen gemeinsame Ausrichtung in die Welt und dies sind nur in den seltensten Fällen eigenen Kinder. Dafür benötige ich den Blick über die eigene Person und meine PartnerIn hinaus. Die meisten Paare schauen stattdessen aufeinander. Da entpuppen sich Kinder oder die klassische Dreiraumwohnung schon nach wenigen Monaten als hohle Kulisse ohne wirkliches inneres Glück. In der Konsequenz leben in den Städten vor allem Alleinerziehende. Die private und fatale Motivation lautet: wo ist der eine und einzige Mensch, mit dem ich möglichst dauerhaft verschmelzen kann, der sich auch langfristig um mich kümmert und mich versorgt? Außerhalb dieser persönlichen Inszenierung geht aktuell eine Welt zugrunde, die uns dringend braucht. Wir sind als Seelen miteinander verabredet, weil wir etwas vor haben, das wir in dieser Konstellation nur gemeinsam erschaffen können. Viele dieser spirituellen Verabredungen werden fallengelassen, um einem privaten Wahn zu folgen. Im Alter lebt man nicht in immer größerer Fülle, sondern wird über die Jahre immer ärmer und einsamer.
Statt nach einem Partner zu suchen, könnte ich mir die Frage nach meiner Aufgabe in der Welt stellen. Und jeder weiß unbewusst genau, was seine Aufgabe in diesem Leben oder dieser Lebensphase ist. Man muss sich die Frage nur wirklich stellen und Zeit für eine Antwort lassen. Der private Blick in seiner Ausschließlichkeit steht einer solchen Antwort im Weg. Der private Mensch verendet auf diese Weise resigniert nach wenigen Jahren mit Bierflasche in der Hand vor den Bildschirmen. In Auseinandersetzung mit dem Privaten lässt sich sehr anschaulich entdecken, wie sehr wir im Leben regelmäßig an der falschen Stelle suchen.
Wenn ich anfange zu geben, was ich sowieso habe, bekomme ich überraschend, was ich wirklich will und vorher gar nicht spürte. Die Einladung wäre: wenn du einen Raum mit Menschen betrittst, folge der Frage, was kann ich geben, damit dieser Raum getragener, stärker und besser wird. Der Irrtum der umgekehrten Haltung lautet; was kann ich hier bekommen, das ich zu brauchen glaube und beanspruche fordern zu dürfen. Es geht um die Wandlung hin zu einer echten Anteilnahme an der Welt. Folgst du dieser Anteilnahme, wirst du zum Führer und zur Autorität für andere Menschen. Sie werden anfangen dich zu suchen und zu lieben. Es ist dann nicht mehr nötig um Kontakt oder Erfüllung kämpfen oder tricksen zu müssen. Werde zum Pol und zu einem Zuhause für Menschen in einer noch heimatlosen Welt. Lass dich erfüllen, indem du anfängst zu versorgen. Beginne zu geben, statt immer effektiver zu nehmen. Schau nicht, was du willst, sondern auf das was in jeder Situation von selbst passieren möchte. Geh in deine Verantwortung, indem du verbindlich antwortest und entdecke die Perfektion jeden Augenblickes.
Verlasse deine private Anstrengung und beginne zu staunen!
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Über den Zustand der Liebe -
Inhalte einer notwendigen Liebesschule
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Von der äußeren Forderung zur Inneren Entscheidung.
von Michael Hartenfels
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Seit einigen Jahren hängen Stahlschlösser mit den eingravierten Namen zweier Liebenden an den Brückengeländern unserer Städte und bezeugen das metallische Treueversprechen zahlloser Paare. Ein eisernes Schloss wirkt unfrei und bedrohlich, während das seit Jahrhunderten verwendete Herz, in das man einen Pfeil mit zwei Namen zeichnet, poetisch und romantisch leuchtet.
Was verändert sich, wenn die Art, wie wir lieben und treu sind, einem solchen Wandel der Symbole unterworfen wird? Wieso multiplizieren sich diese Schlösser im öffentlichen Raum dermaßen penetrant?
Liebe ist ein Kind der Freiheit und zum Glück unkontrollierbar. Freiheit in der Liebe wird möglich, wenn ich bereit bin die Verantwortung für mich und meine Gefühle zu übernehmen. Die Ausschließlichkeit monogamer und geschlossener Paarbeziehungen, die diese Schlösser feiern, basiert auf Unreife und dem Verbleiben in der eigenen Kindlichkeit. Ich will etwas vertraglich regeln, was sich nicht vertraglich regeln lässt, ohne es von seinem Wesen her zu zerstören. Ich will möglichst lange und umfassend versorgt werden: mit Aufmerksamkeit, Intimität, Liebe, Geschenken, gemeinsamen Feiertagen oder Sexualität. Der Wunsch Verantwortung abzugeben steht im Vordergrund. Viele Menschen scheuen Verantwortung, weil sie in unserer Kultur gleichgesetzt wird mit Verpflichtung und Verzicht. Verantwortung ist hingegen eines der attraktivsten Dinge im Leben überhaupt. Sie bedeutet sich für die eigenen Sehnsucht, Begeisterung, Freude und eben auch Liebe zu engagieren. Bin ich verantwortlich unterwegs, tue ich etwas aus eigenen Stücken für mein persönliches Glück, statt auf die Erfüllung von außen oder durch den Partner zu warten. Ich beende den ständigen, meist stummen Vorwurf gegen die Welt. Danach spüre ich erst, was ich tief in meinem Innersten schon lange tun wollte.
Die häufigsten Todesursachen in Westeuropa sind Herz-/Kreislauferkrankungen. Die Heilung der Herzens kann beginnen, wenn wir Liebe nicht mehr vertraglich regeln müssen. Mein Vertrauen in die Liebe zu einem anderen Menschen wird zu einer eigenen inneren Entscheidung und ist dadurch nicht mehr abhängig vom richtigen oder falschen Verhalten meines Gegenübers. Ich entscheide mich, meiner Liebe treu zu sein und verlasse nicht mehr. Aus Angst verlassen zu werden, suchen viele Liebende Gründe für diese Angst im außen. Oder sie verlassen zuerst, um selbst nicht verlassen zu werden.
Man kann sich von einem Moment auf den anderen verlieben, egal ob man will oder nicht. Eine unglaubliche Herzöffnung wird möglich, wenn ich nicht mehr verheimlichen muss, dass ich auch andere Menschen liebe. Treue definiert sich dann nicht mehr, indem ich von mir oder meinem Gegenüber einen Verzicht auf den Rest der Welt fordere. Verantwortung für die eigenen Gefühle bedeutet etwa, dass meine Eifersucht nichts mehr zu tun hat mit dem, was der andere getan oder nicht getan hat. Es ist an mir, meine Gefühle zu bearbeiten, statt Verhaltenskorrekturen von meinem Partner zu fordern. Bezogen auf die Schlösser: kein Mensch ist Besitz und die Liebe ist frei. Weil sie sowieso frei ist! Meine japanische Freundin Ajano hält Freiheit in der Liebe nur für ein Konzept, dass ihr schlicht nicht gefällt und sie in ihren konditionierten Vorstellungen bedroht. Kürzlich meinte sie überraschend, mit unserer Art der offenen Partnerschaft mit meine Lebensgefährtin Maren, wären wir das einzige Paar in ihrem Freundeskreis, dass seit Jahren immer noch glücklich zusammen lebt. Andere Freunde monogamer oder sogar verheirateter Paare hätten sich hingegen - zum Teil schon mehrfach - getrennt. Sie schien empört und mehr noch interessiert an diesem Sachverhalt. Es konfrontierte mich mit der Frage: Was machen Maren und ich als festes und doch offenes Paar seit 17 Jahren eigentlich richtig?
Der Weg in die Freiheit endet, wenn ich den anderen Menschen für mein Glück verantwortlich mache. Diese Verantwortungslosigkeit führt in den engen Raum der herkömmlichen Zweierbeziehungen. Wenn ich hingegen Verantwortung übernehme, wird alles, was mein Partner mit anderen Menschen unternimmt oder erlebt möglicherweise eine Bereicherung statt einer Bedrohung für unserer Liebe. Genau genommen muss sich der andere sogar frei in die Welt bewegen dürfen, um dauerhaft mit mir zusammen sein zu können. Ich bin neugierig, wie er oder sie sich entwickelt. Ich erlaube dem anderen die ganzer Fülle seiner Möglichkeiten. Gerade weil ich sie liebe, stelle ich mich dem zur Verfügung, was ihre Handlungen bei mir auslösen. Regeln, Forderungen oder Vermeidungen nutzen nicht wirklich. Gerade wenn es um Liebe geht, gibt es nichts zu fordern und keine Bedingungen für irgendetwas; denn damit endet die Liebe unmittelbar und ich begebe mich auf die Geschäftsebene zweier Handelspartner. Eine freie Liebe und wirkliche Kontaktfähigkeit ist nicht die Frage von Absprachen oder psychologischen Erkenntnissen, sondern fast ausschließlich eine Aufforderung, seine Gefühle zuzulassen und in die eigene Verantwortung für sie zu gehen. Aber wie kann ich mit den dabei hochkommenden Gefühlen arbeiten?
Es gilt erwachsen zu werden in der Liebe. Als Erwachsener betrachte ich die Handlungen und Erlebnisse meines Partners als Bereicherung und Möglichkeit. Bleibe ich im inneren Kind, gebe ich die Verantwortung für meine Gefühle ab und gehe regelmäßig in den Vorwurf. Professionelle Paarberatung setzt sich daher meist mit der Elternbeziehung und dem inneren Kind des Klienten auseinander. Der andere hat irgendetwas getan oder nicht getan, gesagt oder erlebt, das Schuld ist an meinem Unwohlsein oder auch an meinem Glück. Das noch unentwickelte „Kinder-Ich“ in mir will, dass der andere sich auf eine bestimmte Weise verhält und erwartet dafür stumm mit vorwurfsvollem Blick oder ausgesprochen das Einlösen bestimmter Forderungen. Das Kindliche nimmt sich das Recht zu toben, zu wütend oder bösartig zu werden, aber auch unterwürfig, devot oder infantil, wenn diese Bedingungen nicht erfüllt werden. Mit dem inneren Kind bewusst zu arbeiten ist segensreich, es im Alltag jedoch unbewusst auszuleben führt regelmäßig zum Drama. Das Kinder-Ich ist immer im Recht, sucht Verbündete und hat gute Gründe so zu sein, wie es ist. Wenn ich glaube im Recht zu sein, bin ich in meist schon verloren. Regelmäßig verbinden sich gerade Menschen, die im Kindlichen verbleiben wollen zu Paaren. Sie machen sich die Welt, wie sie ihnen gefällt. Ich will mir im inneren Kind nicht anschauen, wie die Realität und mein Partner wirklich beschaffen ist und was sie mir sagen wollen. Die meisten Menschen leben in dieser „Pippi Langstrumpf“-Welt. Dieses Niveau hat seinen berechtigten Platz in einer bestimmten Entwicklungsphase des Kindes - es ist aber nichts mehr hilfreich in der Welt eines erwachsenen Menschen.
Das Kinder-Ich sucht sich einen Mama oder Papa im Partner um versorgt zu werden. Anschließend meint es berechtigt empört sein zu dürfen, wenn der andere dieses Bedürfnis nicht befriedigt. Der unbewusste Mensch wird auf diese Weise bedürftig, abhängig, anhänglich und sucht aus der Not heraus die ausschließliche Verbindlichkeit mit einem anderen Menschen. Er glaubt, es hat das lebenslange Recht auf einen Elternteil oder eben einen Partner. Dieses unreife, innere Kind kreiert heute in der Regel das, was wir Partnerschaft, Ehe und Beziehung nennen.
Das Kinder-Ich hängt Schlösser an Brücken und findet dieses Elend auch noch richtig oder sogar romantisch. Unsere Kultur ist noch nicht eingetreten in den Zustand des Erwachsenen-Ichs und damit der Möglichkeit wirklich ehrliche und freie Beziehungen führen zu können. Vor diesem Hintergrund verhindert und zerstört das bürgerliche Konstrukt der christlich initiierten, eheartigen Beziehungsformen regelmäßig echte Liebe und Intimität zwischen Menschen. Unsere ganze Gesellschaft wird durch diese Konditionierung gefärbt, deformiert und in ihrer Entwicklung behindert. Liebe findet nicht wirklich statt!
Reife Beziehung bedeutet: der andere ist frei. Weil er frei ist! Er hat sein Geburtsrecht und darf jederzeit die Erfahrung machen, die er für seine Entwicklung braucht, ohne irgendjemanden um Erlaubnis fragen zu müssen. Ich schränke den anderen in keiner Weise ein und stelle mich ohne Vorbehalte meinen Erfahrungen, die sich aus unserem Kontakt ergeben. Die gereifte Persönlichkeit fordert keine Ergebnis vom Gegenüber, sondern öffnet sich den Möglichkeiten, die sich im gemeinsamen Kontakt ergeben. Das Erwachsenen-Ich weiß noch nicht sicher, was entstehen wird, wenn ich der angelegten Attraktivität zwischen meinem Liebespartner und mir folge. Wir gehen zusammen auf eine Reise, die nicht definiert ist, auf deren innere Richtigkeit und Sinn wir aber vertrauen. Innerhalb einer Beziehung ist es natürlich möglich, kindliche Phasen zu durchleben oder bewusst mit dem inneren Kind zu spielen um Lebendigkeit ins Leben zu lassen oder alte Traumata aufzulösen. Diese Heilkräfte sind aber nur möglich in eigenverantwortlichen Kontakten. Basiert die Partnerschaft jedoch auf dem unbewussten Kinder-Ich, sind Drama, Destruktion und baldige Trennung vorprogrammiert.
Viele Paare stehen in der therapeutischen Arbeit meist vor der Entscheidung, ob sie ihre Kinderbeziehung in einer Erwachsenenbeziehung entwickeln oder sich trennen. Für diesen Weg haben wir mit unserer Liebesschule Handlungsspielräume und Erfahrungsräume geschaffen. Andere Ebenen wie Erotik, biographische Arbeit, Konfrontation mit den inneren Eltern oder die Erarbeitung eines Grundwissens zu den Themen Sexualität, Erotik, Religion, Weiblich- und Männlichkeit sind regelmäßige Inhalte. Im Kontext der Gruppen arbeiten wir differenziert auch mit der innerer guten und bösen Tochter bzw. Sohn - differenzierte Inhalte, die einen eigenen Text wert wären. Unsere Schule lehrt das für Menschen Spannendste überhaupt; die persönliche Rückbindung mit der eigenen individuellen Quelle unseres Lebens von Liebe und Erotik. Was ist für mich Intimität und wie kann ich ermöglichen, dass sie in meinem Leben stattfindet? Welche Individualität will in der Liebe durch mich in die Welt? Welche für mich wirklich attraktiven Menschen ziehe ich an und lasse ich zu auf meinem Weg in der Liebe?
Viele Paare überleben ohne bewusster Spiritualität zwar für kurze Zeit, aber sie haben noch keine Essenz und sind nicht von Liebe getragen. Sie sind materielle, emotional reaktive Verbindungen auf Zeit. Nach der ersten Ahnung und einigen schönen Begegnungen ist meist schon „Schluss“. Man trennt sich immer rascher oder lebt als definiertes Paar einfach ohne Liebe, mit eingefahrener Sexualität und ohne eine gemeinsame Entwicklung weiter. Diese seelenlose Beziehung ist gekennzeichnet durch das gemeinsame Konto, das gemeinsame Haus, die gemeinsamen Kinder und die gemeinsame Altersversorgung. Eine „Gemeinsamkeit“, die gar nicht wirklich vorhanden ist und deren Sinnlosigkeit spätestens dann offensichtlich wird, wenn die Kinder "groß" geworden sind. Es gibt in diesem kleinen Beziehungskasten eines Paares immer weniger Sinn, Freude oder Liebe - er bricht trotz anfänglicher Treueversprechen auseinander.
In der Herzarbeit gelten folgenden Grundlagen: keine Abwehr, Ehrlichkeit, Mut das Eigene zu fühlen, das Auflösen fixer Punkten in meiner Weltsicht (das ist „meine“ Frau, „mein“ Kind, „mein“ Haus und „so“ bin ich). Es geht um das bewusste Gestalten von immer größeren gemeinsamen Inseln in unseren intimen Beziehungen. Die Lösung des Blickes aufeinander führt rasch zu einem gemeinsamen Blick in die Welt. Was wollen wir als Paar in die Welt geben und gestalten aus unserem gemeinsamen intimen Raum der Zweisamkeit heraus? Das kann ein Kind sein, muss es aber nicht. Auch die Frage nach der eigenen Lebensphase und der persönlichen Ausrichtung spielt hier eine Rolle. Was können wir beide in dieser Weise nur gemeinsam tun, dass kein anderer so tun kann? Hier beginnt und gestaltet sich eine tiefere Form der Romantik. Wofür wurden wir vorbereitet und zusammengebracht? Hier beginnt der spirituelle Raum einer Beziehung, den viele Paare mit dem Kinderkriegen bereits beenden. Damit meine Partnerin und ich uns entwickeln können, ist ein freie Umgang mit der Welt essenziell. Intimität ist nicht mehr der Auslöser für Trennung, sondern wesentliche Voraussetzung für einen, sich überhaupt erst entwickelnden Kontakt. Ich unterstütze das Geburtsrecht und die Entwicklungsmöglichkeit meines Partners, indem ich ihm und mir zugestehen, was die Essenz unseres Lebens ausmacht; Kontakt und Intimität zu anderen Menschen. Diese Intimität zu suchen, zu leben, zu pflegen, weiter zu entwickeln und wenn nötig wieder zu beenden ist die Grundlage. Von hier aus wird alles interessant, spannend und dient der notwendigen Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und auch der wirklichen Partnerschaft miteinander.
Erst durch diese Spiritualität verfeinert und differenziert sich die Liebe und kann wachsen. Der große Ursprung für spirituelle Erfahrung ist die mannigfaltige Welt der Erotik. Erotik hat viel mit Zweisamkeit, aber ebenso viel mit Fremdheit und Wechsel zu tun. Die Liebesschule beschäftigt sich mit Quellensuche im Eros und seinen Gesetzmäßigkeiten. Sie verbindet Erotik mit Religion. Wie bewege und entwickele ich mich als Mensch, wenn ich jenseits meiner Konditionierung - endlich - wieder darf? Hier entsteht Treue, für die ich keine Stahlschlösser, Absprachen oder Eheverträge mehr brauche, um sie mir ständig bestätigen oder erzwingen zu müssen. Es ist der schlichte Weg von der äußeren Forderung zur inneren Entscheidung.
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© Michael Hartenfels Bad Soden 2019
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